Ein Solo der Dirigent*innen

Samstagvormittag, zeitlich irgendwo zwischen drittem und voraussichtlich bald folgendem vierten Lockdown. Längst an Lockdown-Homeoffice-Wochenenden gewöhnt, findet das samstäglich Vormittagsritual in gewohnter Weise statt. Es läuft meiner 80iger-Playlist (ich bekenne!) und ich lese gerade meine Lieblingskolumnen im Falter (bekenne ich auch!). Da kommt mir dieser vielleicht abstruse Gedanke. Stellen Sie sich ein Konzert vor, in dem die Dirigentin oder der Dirigent so ziemlich bei jedem geplanten Musikstück ein Instrument zückt und ein Solo spielt. Das Ganze dann laut, mit Begeisterung und mit sehr eigenwilligen Melodien oder gar mit einem völlig anderem Lied. Was macht das Orchester? Beim ersten Mal vermutlich fragend und irritiert dreinschauen und trotzdem im Programm weiterspielen. Was macht das Publikum? Beim ersten Mal das Ganze als besondere Show-Einlage sehen, auch wenn das eigentlich so gar nicht zum Konzert passt. Beim zweiten Mal wird das Orchester wieder irritiert sein und wieder weiterspielen. Das Publikum wird es ertragen. Die Konzertqualität profitiert davon aber sicher nicht und das Publikum wird sich langsam auch seinen Teil denken. Und es geht weiter so im Programm. Eine chaotisch anmutende und fatale Choreografie von einzelnen Instrumenten, mit völlig losgelöstem Solo. Immer wieder aufs Neue. Es wird einfach nichts mehr zusammenpassen. Mit jedem weiteren Mal wird das Orchester mehr Gleichgültigkeit entwickeln und einfach seine eigenen Stücke spielen. Die Dirigent*in macht munter weiter mit den Solos. Und kein Solo hält das vorher Versprochene. Das Publikum verabschiedet sich zunehmend. Geistig wie physisch. Im übertragenen Sinne beginnen die ersten Tomaten zu fliegen. Der Top-Beliebtheitsstatus der Dirigent*in fließt mit 3 bis 4 Metern pro Sekunde die Donau runter, das sonst sehr gute Orchester leidet mit und die Stimmung im Publikum (wie auch im Orchester) kippt irgendwann völlig. Wird nicht irgendwann die Notbremse gezogen, dann läuft das Konzert völlig aus dem Ruder. Fazit: Der Schaden für das Publikum und das Orchester ist da, vielleicht gibt es eine Rückerstattung der Ticket-Kosten, vielleicht auch nicht. Wer weiß. Die Dirigent*in lebt, gefühlt unbeschadet und aussitzend, in ihrer eigenen Welt weiter. Was bleibt? Der Schaden bleibt. Sie fragen sich jetzt sicher: Was ist das Abstruse daran? Bis jetzt ist nichts dabei, was nicht in der Realität passieren kann oder wird, wenn ein Konzert so verläuft. Na, dann ersetzen Sie mal: Konzert mit Krise, Dirigent*in mit Leiter des Krisenmanagements, Orchester mit Krisenstab und Publikum mit betroffener Bevölkerung. Jetzt abstrus genug? Oder doch eine greifbare Parallele?

Markus Glanzer, langjährige erste Geige